Frühbetreuung: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?
Georg Lenz • 15. Februar 2025
Wie sich das kindliche Selbst entwickelt und warum und wie die
frühe Fremdbetreuung diesen Prozess beeinflussen kann

Stell dir vor, dein Kind steht vor dem Spiegel. Es betrachtet sich eine Weile, runzelt die Stirn, tippt sich auf die Nase – und dann auf das Spiegelbild. Ein kurzer Moment des Nachdenkens. Dann ein Lächeln, vielleicht ein erstauntes Blinzeln. Und plötzlich ist er da: der erste zaghafte Hauch von „Ich“.
Was für uns Erwachsene selbstverständlich ist – dass wir ein eigenes, voneinander getrenntes Selbst haben – ist für Kinder eine bahnbrechende Erkenntnis. Doch diese Erkenntnis fällt nicht vom Himmel. Sie entsteht, wächst, wird geformt durch soziale Erfahrungen, Bindung, Reaktionen von anderen.
Und genau hier wird es spannend: Was passiert, wenn Kinder diesen Prozess nicht in einem vertrauten, stabilen Umfeld durchlaufen, sondern in einer frühen Fremdbetreuung? Welche Weichen stellt das für ihr Ich-Gefühl? Und wie viel Frühbetreuung ist eigentlich „zu früh“?
Ein Blick auf die Wissenschaft, gepaart mit einem Schuss gesundem Humor, kann helfen, dieses Thema mit der nötigen Mischung aus Klarheit und Gelassenheit zu betrachten.
Das große Aha-Erlebnis: Wann ein Kind merkt, dass es „Ich“ ist
Es gibt einen Grund, warum Wissenschaftler:innen immer wieder kleine Kinder mit einem roten Punkt auf der Stirn vor einen Spiegel setzen. Der sogenannte Rouge-Test ist eine der einfachsten Methoden, um herauszufinden, ob ein Kind sich selbst erkennt. Denn solange es noch davon ausgeht, dass das Spiegelbild ein anderes Kind ist, wird es den roten Fleck ignorieren. Erst wenn es sich selbst als eigenständiges Wesen wahrnimmt, wird es versuchen, sich den Punkt aus dem Gesicht zu wischen.
Diese magische Schwelle überschreiten Kinder typischerweise irgendwann zwischen dem 18. und 24. Monat. Doch die Grundlagen dafür werden schon viel früher gelegt. Bereits Neugeborene unterscheiden intuitiv zwischen sich selbst und anderen – sie reagieren anders auf das eigene Gesicht als auf fremde Gesichter, erkennen vertraute Stimmen und spiegeln Gesichtsausdrücke.
Das bedeutet: Die Entwicklung des Selbst ist ein schleichender, hochsozialer Prozess. Kinder lernen sich selbst kennen, weil sie von anderen wahrgenommen werden. Ihr Selbstbild entsteht in der Interaktion mit Bezugspersonen – durch Blicke, Reaktionen, Worte. Das kindliche Ich ist also kein einsamer Solitär, sondern ein Spiegelbild der Beziehungen, in denen es sich bewegt.
Kein Kind dieser Welt braucht perfekte Eltern. Es braucht Eltern, die da sind - mit all ihren Ecken, Kanten und Zweifeln. Dieses Tagebuch lädt dich ein, dich von der Idee zu verabschieden, alles *richtig* machen zu müssen.
Ich bin, weil du mich siehst: Die Rolle der Bindung
Eltern (und andere enge Bezugspersonen) spielen in diesem Prozess eine entscheidende Rolle. Sie sind sozusagen die ersten Biografen ihres Kindes. „Du bist müde“, „Du hast Hunger“, „Du bist ein kleiner Entdecker“ – all diese Spiegelungen helfen dem Kind, sich selbst zu verstehen.
Diese Rückmeldungen formen nicht nur das Selbstbild, sondern auch die Sicherheit, mit der Kinder ihr Ich erleben. Ein Kind, das zuverlässig gespiegelt wird, lernt: Ich existiere. Ich bin wertvoll. Ich bin mit der Welt verbunden.
Bindung ist dabei nicht nur ein emotionales Extra, sondern die Basis für eine stabile Selbstentwicklung. Ein sicher gebundenes Kind kann sich selbst mit mehr Vertrauen entdecken, weil es sich innerlich gehalten fühlt. Unsichere oder instabile Bindungen hingegen können dazu führen, dass das Selbstbild brüchiger wird – weil die innere Gewissheit fehlt, geliebt und verstanden zu werden.
Nun stellt sich die Frage: Was passiert, wenn ein Kind in genau dieser sensiblen Phase in eine Frühbetreuung kommt, in der es keine elternähnliche Bindung aufbauen kann?
Frühbetreuung: Was passiert mit dem kindlichen Ich?
Zunächst die gute Nachricht: Nicht jede Form von Frühbetreuung bedeutet automatisch Stress oder Unsicherheit für das Kind. Entscheidend sind zwei Dinge:
1. Die Qualität der Betreuung (gibt es stabile Bezugspersonen, die feinfühlig auf das Kind eingehen?)
2. Die Sicherheit der Elternbindung (kann das Kind sich auf seine Eltern verlassen, auch wenn sie nicht da sind?)
Wenn eine Betreuungsperson konstant da ist, feinfühlig auf das Kind eingeht und es verlässlich spiegelt, kann eine Frühbetreuung sogar bereichernd sein. Das Kind kann mehrere stabile Bindungen aufbauen – und genau das kann sein Ich-Gefühl sogar stärken.
Problematisch wird es allerdings, wenn die Betreuung nicht individuell, sondern eher funktional ist. Häufig wechselnde Erzieher:innen, zu wenig Zeit für Bindungsaufbau oder eine große, anonyme Gruppenstruktur können dazu führen, dass das Kind sich nicht als Individuum erlebt, sondern eher als eines von vielen.
Was kann dann passieren?
1. Schwächere Selbstwahrnehmung:
Ein stabiles Ich-Gefühl entwickelt sich durch verlässliche soziale Spiegelung: Wenn eine feinfühlige Bezugsperson die Emotionen des Kindes wahrnimmt, benennt und darauf reagiert, lernt das Kind sich selbst kennen. Diese Spiegelung gibt Orientierung – „So fühle ich mich gerade“ – und hilft dem Kind, seine innere Welt zu strukturieren.
Fehlt eine solche konstante Bezugsperson in der Frühbetreuung oder wird das Kind eher funktional betreut, kann die eigene Selbstwahrnehmung unscharf bleiben. Das Kind erfährt sich dann nicht als eigenständiges Individuum mit einem einzigartigen emotionalen Erleben, sondern eher als Teil einer Gruppe, in der es „mitläuft“. Manche Kinder reagieren darauf, indem sie sich zurückziehen, weil sie sich nicht sicher sind, wie sie sich ausdrücken dürfen. Andere verhalten sich auffällig oder suchen verstärkt nach Bestätigung, um sich ihrer Existenz bewusst zu werden.
➡ Folgen: Später kann es dem Kind schwerfallen, seine eigenen Gefühle und Bedürfnisse klar zu erkennen und auszudrücken. Das kann sich in Unsicherheiten, Anpassungsdruck oder einer erhöhten Abhängigkeit von äußeren Bestätigungen äußern.
2. Erhöhte Stressreaktionen:
In Studien wurden bei Kindern in früher Fremdbetreuung mit unsicherer Eingewöhnung erhöhte Cortisolwerte festgestellt – ein Zeichen für chronischen Stress. Gerade wenn der Übergang abrupt, wenig individuell oder unpersönlich gestaltet wurde, bleibt das Nervensystem in einem Alarmmodus. Der Körper signalisiert: „Ich bin hier nicht sicher.“
Cortisol ist ein Stresshormon, das kurzfristig hilft, auf Belastungen zu reagieren, langfristig aber negative Auswirkungen auf die Entwicklung haben kann. Besonders betroffen sind das Bindungssystem und das emotionale Regulationsvermögen. Kinder, die über längere Zeit erhöhtem Stress ausgesetzt sind, können entweder übererregt (z. B. reizbar, unruhig) oder untererregt (z. B. zurückgezogen, teilnahmslos) reagieren.
➡ Folgen: Kinder mit dauerhaft erhöhten Cortisolwerten haben ein höheres Risiko für emotionale Dysregulation, erhöhte Ängstlichkeit oder ein erschwertes Vertrauen in neue Beziehungen.
3. „Soziale Maskierung“:
Manche Kinder entwickeln Anpassungsstrategien, um mit einer unsicheren Frühbetreuung zurechtzukommen. Sie wirken ruhig, unauffällig und „pflegeleicht“, obwohl sie innerlich angespannt sind. Dieses Verhalten nennt man auch „soziale Maskierung“ – die Kinder lernen früh, ihre eigenen Bedürfnisse und Unsicherheiten zu unterdrücken, um in der Gruppe nicht negativ aufzufallen.
Diese Kinder zeigen oft gutes Sozialverhalten, halten sich an Regeln und fordern wenig Aufmerksamkeit ein. Doch das bedeutet nicht, dass sie sich tatsächlich wohlfühlen. Sie beobachten, imitieren und passen sich an, ohne eine echte emotionale Verbindung zu den Betreuungspersonen aufzubauen. Dadurch bleibt ihr Bindungssystem unterversorgt – die emotionale Sicherheit, die für ein gesundes Selbstbewusstsein nötig wäre, entsteht nicht.
➡ Folgen: Diese Kinder können als Erwachsene Schwierigkeiten haben, authentische Beziehungen einzugehen, weil sie gelernt haben, sich in sozialen Kontexten zu „verstecken“. Sie wirken vielleicht selbstständig, tun sich aber schwer, ihre wahren Bedürfnisse zu erkennen oder sich emotional einzulassen.
4. Übermäßige Elternfixierung:
Kinder, die in der frühen Fremdbetreuung keine emotionale Sicherheit erleben, suchen oft verstärkt Halt bei ihren Eltern. Statt sich im Kindergarten oder in der Kita zu öffnen, klammern sie zu Hause umso mehr – aus Angst, diese eine stabile Bindung könnte ihnen ebenfalls verloren gehen.
Eltern erleben das häufig als überraschend: Das Kind zeigt in der Frühbetreuung keine großen Probleme, ist dort „brav“, doch zu Hause kommt es zu starken Wutausbrüchen, extremer Anhänglichkeit oder sogar Schlafproblemen. Diese Reaktion ist ein Zeichen dafür, dass das Kind die Unsicherheiten der frühen Fremdbetreuung „nach Hause trägt“, weil es dort endlich in einer geschützten Umgebung ist.
➡ Folgen: Eine übermäßige Elternfixierung kann dazu führen, dass das Kind sich schwer von den Eltern lösen kann, weil es in der Frühbetreuung keine echte innere Sicherheit findet. Statt sich in beiden Umfeldern sicher zu fühlen, entsteht eine emotionale Abhängigkeit, die langfristig die Autonomieentwicklung erschweren kann.
Frühbetreuung kann bereichernd sein,
wenn sie verlässlich, individuell und bindungsorientiert gestaltet wird. Fehlt es jedoch an stabilen Bezugspersonen und emotionaler Sicherheit, kann dies Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung, das Stresslevel, die Beziehungsfähigkeit und die Autonomie des Kindes haben. Ein bewusst gestalteter, behutsamer Eingewöhnungsprozess ist daher entscheidend, um mögliche negative Effekte zu vermeiden.
Wie Eltern das
Ich-Gefühl ihres Kindes stärken können
Egal, ob mit oder ohne Frühbetreuung: Eltern sind und bleiben die wichtigsten Bezugspersonen für die kindliche Selbstentwicklung. Und sie können viel tun, um die innere Sicherheit ihres Kindes zu stärken:
Feinfühlig spiegeln: Kinder brauchen Worte, um sich selbst zu verstehen („Bist du wütend, weil du das Spielzeug wolltest?“).
Sichere Bindung bieten: Verlässlichkeit schafft ein starkes Ich-Gefühl.
Gute Übergänge gestalten: Eine sanfte, bindungsorientierte Eingewöhnung kann den Stress reduzieren.
Multiple sichere Bindungen ermöglichen: Wenn das Kind in der Betreuung eine stabile Bezugsperson hat, kann es sich dort auch sicher fühlen.
Das kindliche Ich ist kein Zufallsprodukt – es wächst in Beziehungen. Und ob ein Kind sich selbst sicher fühlt, hängt stark davon ab, wie es von seinen wichtigsten Bezugspersonen gesehen wird.
Schlussgedanke
Ein Kind, das sich im Spiegel erkennt, hat einen wichtigen Schritt gemacht. Aber es braucht mehr als ein Spiegelbild, um sich selbst zu verstehen: Es braucht Menschen, die es liebevoll spiegeln.
Frühbetreuung kann eine Bereicherung sein – oder eine Herausforderung. Entscheidend ist, ob ein Kind sich dort als einzigartiges Ich erlebt oder nur als Teil einer anonymen Gruppe.
Eltern können nicht immer alles beeinflussen. Aber sie können das tun, was am meisten zählt: ihrem Kind zeigen, dass es gesehen wird. Denn nur wer gesehen wird, kann sich selbst erkennen.
Und jetzt?
Was sind deine Erfahrungen mit diesem Thema? Wie hast du den Übergang in die Frühbetreuung erlebt – oder welche Fragen beschäftigen dich? Schreib es in die Kommentare!
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Der Begriff „Rückschritt“ fällt im Zusammenhang mit der Eingewöhnung in den Kindergarten oft, wenn Kinder nach einer Phase des Wohlfühlens plötzlich wieder vermehrt nach Nähe und Sicherheit suchen. Eltern und Erzieherinnen stellen sich dann die Frage, ob etwas schiefgelaufen ist, ob das Kind vielleicht nicht bereit für den Kindergarten ist oder ob der Übergang ins neue Umfeld zu früh erfolgte. Doch dieser Gedanke ist nicht nur veraltet, sondern auch wenig hilfreich.

Manchmal sitze ich da und überlege mir, worüber ich schreiben kann. Mir kommen alle möglichen Themen in den Sinn. So wie jetzt. Eins davon fühlt sich gerade ganz authentisch an, also formuliere ich eine Überschrift. Jaaa, das klingt gut, denke ich mir. Das kennen sicher viele Eltern, worüber es unter dieser Überschrift gehen wird. Ich fange an, im Kopf Sätze zu bilden. Ich mag es, wenn sie so richtig wohlgeformt sind und nach was klingen (ja, in diesem Artikel wird das Wörtchen “ich” wohl öfter vorkommen).

Immer wieder lese ich in Konzeptionen und Ratgebern das Wort "übernehmen" - die Fachkräfte übernehmen mehr und mehr die Betreuung des Kindes. Genau da muss das Umdenken stattfinden, sowohl bei den Fachkräften als auch bei den Eltern. Und schon ist das Geheimnis gelüftet. Die Eingewöhnungsphase im Kindergarten markiert einen bedeutsamen Meilenstein für Kinder und Eltern gleichermaßen. Eine aktive Übergabe der Beziehungsgestaltung durch die Eltern spielt dabei nicht nur eine entscheidende Rolle für einen gelungenen Start. Sie beeinflusst ebenso den Gesamtverlauf der Kindergartenzeit.